4.3.12

So einfach ist es zwar nicht, aber

Manfred Spitzer berichtet:

„Papa, es gibt schlechte und gute Nachrichten. Die schlechte: Ich bin durch die Klausur gefallen. Die gute: Ich war der beste von den 93%, die durchgefallen sind“ schrieb mir mein Sohn per SMS während seines ersten Mathematik-Semesters an einer guten deutschen Universität."

"Nun weiß man jedoch, dass mathematische Hochbegabung mit Autismus (das heißt, einer psychischen Störung mit Defiziten in den Bereichen Kommunikation und soziale Interaktion) assoziiert ist:
Mathematiker haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, an Autismus erkrankt zu sein, [...]"

(Eine private Erfahrung: Die wissenschaftliche Hilfskraft, die - nach meinem Eindruck - in meiner Lehrveranstaltung am systematischsten das Selbstbewusstsein nicht hochbegabter Mathematikstudenten abbaute, wurde später Ordinarius.) - Normaldruck: Manfred Spitzer, Schrägdruck: Fontanefans Kommentar.

"Das Systematische an der Ausbildung von Mathematiklehrern besteht also darin, dass während ihrer Ausbildung aktive Selektion gegen Menschen mit sozialem Einfühlungsvermögen betrieben wird. Das ist etwa so sinnvoll wie das Abfassen der Lehrmaterialien sowie Abhalten der schriftlichen Prüfungen bei der Ausbildung zum Verkehrspiloten in Blindenschrift."

"Stellen Sie sich nun vor, ich hätte meinen letzten Patienten vor 30 Jahren gesehen und würde meine angehenden Psychiatrie-Weiterbildungsärzte mit den Worten begrüßen: „Vergessen Sie, was Sie in sechs Jahren Studium an medizinischer Theorie gelernt haben: Wir haben hier richtige Patienten!“ Undenkbar? – in der Medizin ja, in der Bildung der Normalfall! Pädagogik-Professoren
unterrichten keine Schüler."

Wohl aber Informatikprofessoren.

"Wie sollen sie als Vorbild dienen können, an dem junge Lehrer sich „eine Scheibe abschneiden“? Systembedingt können sie das gar nicht! – Für diese eklatante Schwachstelle im Bildungssystem gibt es bei den hierfür Verantwortlichen einen vollkommenen blinden Fleck: Man sieht sie gar nicht, und hat daher auch keinen Handlungsbedarf. Abhilfe wäre leicht mit einer Systemänderung zu schaffen. Ebenso wie es keine Ausbildung in Medizin ohne Patienten gibt, sollte für den Bereich der Bildung gelten: Wer Lehrer ausbildet, muss auch Schüler unterrichten und wo Lehrer ausgebildet werden, müssen Schüler sein; nicht irgendwo in einer assoziierten Schule, sondern mitten im pädagogischen Institut. Es sollte keine normale Schule sein, sondern eine Brennpunktschule, genau so, wie an Universitätskliniken ja auch vor allem die schwierigen Fälle behandelt werden und die nächste Generation lernt, wie man das macht."

Oben genannter Informatikprofessor erkannte bald, dass er in der Hauptschule zu wenig Gelegenheit hatte, Fachunterricht zu erproben, sondern an sehr grundsätzlichen Problemen hängen blieb, und wählte andere Bedingungen. (Ein reiner Pädagogikprofessor hätte das wohl nicht tun sollen. Doch kenne ich kein Beispiel von einem Professor, der kontinuierlich an einer Brennpunktschule unterrichtete.)

"Von der Medizin weiß man:
Je mehr Therapieverfahren es für eine Krankheit gibt, desto schlechter wirken sie alle (und umgekehrt: Wenn etwas gut wirkt, machen alle genau das). In der Bildung haben wir 16 Systeme mit insgesamt knapp hundert Schultypen."

Nun ist Bildung etwas anderes als Medizin und es ließe sich an den Argumenten manches aussetzen. Trotzdem gibt Spitzers Argumentation zu denken.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Die Argumentation Spitzers ist über weite Strecken schlüssig, seine Schlussfolgerungen halte ich für richtig. Aber warum nur untergräbt er seine eigene Autorität mit undifferenzierten Charakterisierungen und plakativen Vergleichen?

Es gibt sicher Mathematikprofessoren, die in ihrem Fach eine elitäre Haltung kultivieren. Und es wäre wünschenswert, dass angehende Mathematiklehrer früher mit Schülern in Kontakt kommen. Doch Spitzer schießt weit übers Ziel hinaus. Er bescheinigt den Mathematikprofessoren pauschal, sie seien “im Hinblick auf soziales Einfühlungsvermögen eher stark herausgefordert”.

Da fühlt man sich an den Stammtisch versetzt, aber wer weiß - vielleicht rechtfertigt die Datenlage ja diese Charakterisierung? Spitzer informiert uns: “Mathematiker haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, an Autismus erkrankt zu sein”. Nun kann eine erhöhte Wahrscheinlichkeit aber absolut betrachtet immer noch gering sein. Wie sehen also die Zahlen aus? Spitzer zitiert eine Studie aus den Niederlanden: In Eindhoven (einer IT-Hochburg der Niederlande) hatten mehr als dreimal so viele Kinder Erkrankungen aus dem Autismus-Spektrum wie in Vergleichsstädten. Doch der absolute Anteil betrug auch dort nur 2,3 %. Daraus auf die sozialen Fähigkeiten von Mathematikern im allgemeinen zu schließen, ist ziemlich fragwürdig. Zudem weisen die Autoren der Studie selber darauf hin, dass die Daten auch örtliche Unterschiede in der Diagnose und Erfassung von Autismus widerspiegeln könnten und dass ihre Ergebnisse deshalb vorläufig sind.

Ganz nebenbei: Wer Autismus mit sozialer Inkompetenz in eine Schublade steckt, verharmlost eine Krankheit, die den Betroffenen oft genug ein selbständiges Leben unmöglich macht. Das sogenannte Autismus-Spektrum umfasst eine Reihe psychischer Störungen mit unterschiedlichem Schweregrad; von einem Psychiater wie Spitzer hätte man sich eine differenziertere Sichtweise gewünscht.

Unfreiwillig komisch wird Spitzer dann bei dem Versuch, ein Bild zu finden für die “aktive Selektion gegen Menschen mit sozialem Einfühlungsvermögen”, die seiner Ansicht nach bei der Ausbildung von Mathematiklehrern stattfinde. Das gegenwärtige System sei “etwa so sinnvoll wie das Abfassen der Lehrmaterialien sowie Abhalten der schriftlichen Prüfungen zum Verkehrspiloten in Blindenschrift”. Das mag noch als Überspitzung durchgehen, aber niemand wird seine Behauptung glauben, ein solches System “verschaffte erblindeten Menschen einen Vorteil [...] und erhöhte ihren Anteil unter Piloten deutlich”. Natürlich wird kein Blinder Pilot; unverständlich ist für mich, weshalb Spitzer es überhaupt nötig hat, ein so krudes Gleichnis zu bemühen, wo er doch sonst so überzeugende Argumente hat.

Um es noch einmal klar zu sagen: Spitzers Forderung, die Schüler früher in die Lehrerausbildung zu integrieren, finde ich richtig, seine Kritik an Ideologie und wissenschaftlich unfundiertem Aktionismus in der Schulpolitik teile ich. Seltsam mutet aber gerade vor diesem Hintergrund an, welch schiefe Vergleiche er als Argumente heranzieht und welch platte Vorurteile er Mathematikern anheftet.